Wir sind soziale Wesen, oder anders formuliert, wir sind von unserem Umfeld, von der Gemeinschaft, in der wir leben abhängig. Aber weshalb? Aus biologischer Sicht ist es Ziel der Natur, das Überleben des Erbguts zu sichern. Nur Lebewesen, die gelernt haben sich anzupassen, können dies gewährleisten: „Ewiges Leben“ gelingt ihnen durch ewige Vermehrung bzw. Fortpflanzung. Die Natur „erfand“ dafür verschiedene Strategien, die auf unterschiedlichen Formen von Erinnern beruhen.
Beispielsweise setzen Bakterien auf ein rein genetisches Gedächtnis. Sie passen sich auf ein verändertes Umfeld (z.B. die Präsenz eines Antibiotikums) dadurch an, dass zufällige genetische Varianten (die resistent sind) überleben. Damit dieser Zufall mit großer Wahrscheinlichkeit gelingen kann, müssen sie in großer Zahl auftreten (was sie meist tun) und sich schnell vermehren können (was sie auch tun). Ersteres sichert einen großen Pool an genetischer Vielfalt, in der die passende Zufallsvariante rekrutiert werden kann, Letzteres ermöglicht die schnelle Reproduktion eines somit angepassten Pools von Bakterien. Diese Strategie funktioniert seit Anbeginn des Lebens und erklärt die derzeit zunehmende Resistenz von Krankenhauskeimen gegen moderne Antibiotika. Die Erinnerung an eine Anpassung ist immer nur im Bakterienerbgut gespeichert.
Im Gegensatz zu einem genetischen Gedächtnis (das auch wir besitzen und nutzen) setzt sie Natur bei unserer Überlebensstrategie seit den letzten etwa zehntausend Jahren fast vollends auf eine andere Art des Erinnerns. Nicht in Form eines genetischen Codes im Erbgut, sondern in Form von Bildern, Symbolen, Wörtern und Gedanken in unserem Gehirn und unserem Kulturgut. Der Grund?
Wir zählten in unserer Entwicklungsgeschichte niemals zu den Stärksten noch zu den Schnellsten, dafür aber zu den Erinnerungsfähigsten. Und je weiter man zurückblicken kann, umso weiter kann man auch in die Zukunft sehen. Unsere Begabung zu planen und kooperativ zu handeln, basierend auf einem immer leistungsfähigeren Gehirn (mit einem immer besseren Erinnerungsspeicher) wurde zunehmend zu unserem Vorteil.
Insbesondere die lange Zeit der Reifung dieses menschlichsten aller unserer Organe benötigt eine enge soziale Bindung sowohl in der Partnerschaft als auch im sozialen Verband. Soziale Abhängigkeit ist uns also in die Wiege gelegt worden. Wir brauchen Menschen, müssen aber auch von Menschen gebraucht werden. Es gibt kaum eine härtere Strafe als Isolation.
Indem wir Aufgaben in der Sippe übernahmen, unterstützen wir unseren eigenen Fortbestand. Deshalb besitzt der Mensch auch zwei wesentliche Aufgaben in seinem Dasein. Die Natur würde sie als Zweck bezeichnen, für uns ergeben sie (Leben-)Sinn: Erstens die Weitergabe des Erbguts (wie alle Lebewesen), und zweitens, aber ebenso wichtig, die Weitergabe des erworbenen Wissens (das tun auch andere kulturfähige Lebewesen, wie beispielsweise Meeressäuger). Gerade Letzteres war für den Schutz der Sippe von herausragender Bedeutung, weshalb es aus dieser Sicht der Notwendigkeit für die Evolution nicht zweckmäßig gewesen wäre (und für uns keinen Sinn macht), wenn das ältere Mitglied der Sippe genetisch dazu verdammt wäre, langfristig krank zu sein (und damit zu einer Belastung für das Überleben der Sippe und des gemeinschaftlichen Erbguts) oder noch schlimmer, geistig im Sinne einer Demenz abzubauen (womit die Lebensweisheit des Erfahrensten in der Sippe verloren ginge). Anders ausgedrückt, wer genetisch (bzw. durch das Alter) bedingt zu einer senilen mentalen Schwäche geneigt hätte, der hätte sein eigenes Erbgut nicht geschützt und damit wäre diese Neigung zur Demenz auch nicht weiter vererbt worden. Damit widerspricht dieses evolutionsgeschichtliche Verständnis der allgemeinen Aussage, dass beispielsweise Alzheimer eine natürliche, altersbedingte Krankheit sei! Gleiches gilt für sämtliche vermeintliche Zivilisationskrankheiten.
Was hat sich verändert, dass aus dem erfahrenen Senior in unserer modernen Zeit mit immer größerer Wahrscheinlichkeit ein seniler Mensch wird?
Unsere geistige Kulturfähigkeit wurde in den letzten Jahrtausenden, insbesondere in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten immer mehr von unseren Gehirnen weg in andere Medien der Datenspeicherung ausgelagert. Die Informationsdichte, die wir zu bewältigen haben, ist nicht mehr auf ein Gehirn beziehungsweise auf ein Menschleben begrenzt und auch nicht mehr davon abhängig. Wir leben heute im Informationszeitalter, in dem es immer schwieriger wird und irgendwie auch sinnloser erscheint, mit dem exponentiellen Wachstum der gigantischen Informationsspeicher mitzuhalten. Egal, ob wir mit Multitasking, reduziertem Schlaf und Verzicht auf Bewegung und sogar mittels Fastfood Zeit sparen wollen, wir werden den Informationswettlauf verlieren. Immer schneller verändert sich die Welt, mit immer höherer Frequenz entstehen neue Technologien, die man beherrschen muss, um noch als funktionierender Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden – so glaubt man und so macht es uns die Industrie weis.
Die Strategie der Natur, bei unserem Überleben und beim Sichern unseres Erbguts auf kulturelle Information zu setzen, entpuppt sich mittlerweile als unsere (und ihre) größte Bedrohung. Nur eine Rückbesinnung auf unseren eigentlichen Lebenszweck kann uns (und ihr) vermutlich helfen.
Die Methusalem-Strategie berücksichtigt die Ursache und die zunehmende Problematik dieser fatalen Entwicklung bei der Erstellung einer Lösung: Der Lebenszweck muss wieder ins Zentrum unseres Denkens und Handelns rücken. Graphisch ist dies in der Methusalem-Formel so dargestellt. Die Gemeinschaft ist nur ein Mittel zu diesem Zweck – und nicht der Zweck selbst. Wir und unsere Kinder sind es, das wir schützen müssen, und nicht die Märkte, wenn diese unserer Natur zuwider handeln, Lebensräume zerstören und uns die Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens rauben. Wir müssen unser Weltbild unserer Natur anpassen, und nicht umgekehrt, denn das ist nicht möglich!
Geben wir viel zu leichtgläubig (unreflektiert) den Konsum bedingten Zielvorgaben und den ständigen Erwartungen unseres Umfelds nach, werden wir zum Opfer und zugleich zum Mittäter kultureller Entwicklungen, die uns selbst, unserem Umfeld und der Umwelt schaden. Die Ursache ist so offensichtlich wie deren Folgen: Wir werden durch technologischen Fortschritt immer produktiver und müssen immer mehr konsumieren, um für die stetig wachsende Produktion den Bedarf (und die Gelder) zu garantieren. Dass wir schon rein theoretisch diese Entwicklung nicht langfristig durchhalten können, sollte jedem klar sein. Aber dies wird weder von der Industrie hinterfragt, noch von der Politik, die die Rahmenbedingungen auf stetiges Wachstum optimiert, noch gibt es dazu einen gesellschaftlichen Aufschrei. Wir sehen nur die globalen Konsequenzen, wundern uns und machen weiter wie gehabt. So wird zwar die Medizin stetig besser, aber nicht unsere Gesundheit. Erst ein Burnout (es ist ja wirklich zum depressiv werden) oder ein Herzinfarkt lässt uns innehalten. Das ist nicht weise und wider dem Sinn unseres Daseins.
Ich bin jedoch davon überzeugt, dass unsere Gesundheit ein Hebel sein muss, ein Bewusstsein für mehr Selbstverantwortung zu schaffen und dass daraus auch notwendigerweise Verantwortung für unsere Umwelt erwächst. Im meinem Buch „Die Methusalem-Strategie“ erkläre ich deshalb, wie jeder Mensch seine produktive Lebensspanne im Vergleich zu den Prognosen des statistischen Bundesamts – das gesunde und kranke Jahre in der Lebenserwartung leider nicht unterscheidet –, verdoppeln lässt. Aber lesen Sie selbst!
Mit dieser und den letzten 8 Kolumnen zur Methusalem-Strategie habe ich einige wesentliche Gedanken zusammengefasst und Sie vielleicht ein wenig dazu sensibilisiert, die Welt aus einer anderen Richtung zu betrachten. In meiner nächsten und letzten Kolumne werde ich versuchen, an Hand einer großen Herausforderung zu zeigen, dass die Voraussagen der Methusalem-Strategie tatsächlich zutreffen; dass man mit einer natürlichen Balance Unglaubliches erreichen kann – wie auch ein extrem hohes Alter bei voller Gesundheit und Einsichten, die unser Leben so lebenswert machen.
Am 1. Dezember 2012 werden wir zum Schluss auf eine unglaubliche Reise gehen und das Leben im Zeitraffer beim weltweit härtesten Radrennen „erfahren“.