Ein faszinierendes Gespräch über Diäten, Stress und den Königsweg mit dem renommierten Hirnforscher und Buchautor („Das egoistische Gehirn“): Professor Achim Peters
imedo: Lieber Herr Professor Peters, zuerst einmal vielen Dank für diese Theorie. Und nun natürlich die spannende Frage: Warum unterdrückt unser Gehirn den Körper?
Professor Peters: Dieses Verhalten sichert unser Überleben in schlechten Zeiten. In einer Hungersnot, in Kriegszeiten oder bei Naturkatastrophen ist das Gehirn das einzige Organ, das nicht an Gewicht abnimmt. Während zum Beispiel Herz, Milz, Leber oder Niere bis zu 40% Gewicht einbüßen, verliert das Gehirn gerade mal 2% oder gar nichts. Das Gehirn spart also am Körper und teilt sich die nötige Portion zu, indem es das Stresssystem aktiviert. Ganz schön egoistisch von unserem Gehirn – und überlebenssichernd! Denn gerade in schlechten Zeiten brauchen wir den besten Verstand, um Probleme zu lösen. Würden wir in diesen Situationen im Kopf auf Sparflamme kochen, wären wir schnell weg. Das ist übrigens ein uralter Mechanismus, auch bei Tieren.
imedo: Sie erwähnten, das “Stresssystem” würde aktiviert - wie funktioniert das genau?
Professor Peters: Jeder, der mal eine wichtige Prüfung hatte, einen Wettkampf oder großen Streit, weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Stresssystem aktiviert wird: Das Herz beginnt zu schlagen, das Adrenalin steigt und das Gehirn will mit Energie versorgt werden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, wird bei einem starken Stresssystem Energie aus den Körperdepots in das Gehirn geschafft. Diese Menschen sind vor Übergewicht geschützt, man kann sie einfach nicht mästen.
imedo: Sie sagen, Menschen mit einem starken Stresssystem können gar nicht dick werden. Wer also früher gertenschlank war und jetzt sein Gewicht kaum halten kann, ist nicht faul, undiszipliniert oder übermäßig gefräßig, sondern hat es mit einem veränderten Stresssystem zu tun?
Professor Peters: Ja, das ist das Problem. Meist kommen wir mit einem starken Stresssystem auf die Welt, wir sind schlank und geschützt. Dann läuft etwas schief, das Stresssystem wird schwächer und schließlich werden wir übergewichtig. Denn wenn das Stresssystem schlecht arbeitet, das Gehirn also nicht ausreichend aus den körpereigenen Depots versorgt wird, schaltet es auf Notfallplan und der lautet: mehr Essen. So wird die nötige Energie aus der Umwelt in Form von Nahrung zugeführt. Zuviel dieser Energie staut sich im Körper und lässt uns dick werden. Chronischer Stress, oder besser gesagt die Anpassung an chronischen Stress, ist wahrscheinlich die Nummer 1 unter den wahren Ursachen von Übergewicht und eben nicht das Nahrungsangebot!
imedo: Was ist chronischer Stress?
Professor Peters: Zwei Beispiele zur Verdeutlichung: Die alleinerziehende Mutter in finanzieller Not, die sich jeden Tag aufs Neue und jahrelang Sorgen macht, leidet unter chronischem Stress. Oder auch der Arbeitnehmer, der ständig Angst um seinen Arbeitsplatz hat und täglich die schlechte Stimmung im Büro aushalten muss. Dagegen löst ein Strafzettel wegen Parkzeitüberschreitung keinen chronischen Stress aus.
imedo: Welche Auswirkungen hat chronischer Stress auf den Körper?
Professor Peters: Es gibt zwei Typen. Typ A, zum Beispiel ein Schauspieler, hat bei seinem ersten Auftritt wahnsinniges Lampenfieber, auch beim 2. Mal und nach 50 Jahren immer noch. Diese Typen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das Stresssystem immer wieder aufs Neue hoch fahren. Das ist natürlich extrem unangenehm, denn ein hochgefahrenes Stresssystem drückt auf die Stimmung. Zum anderen sorgt dieses starke Stresssystem dafür, dass das Gehirn aus den Körperdepots versorgt wird. Die Folge: Dieser Typ nimmt ab und kann im Extremfall magersüchtig werden. Ist das Stresssystem über zu lange Zeit auf hohem Niveau, kommt es im Allgemeinen zu einer Depression. Zusammenfassend ist Typ A also ein Wenigesser, der bei chronischem Stress an Gewicht abnimmt und langfristig depressiv wird.
imedo: Und Typ B ist dann der glückliche, aber übergewichtige “Frustesser?”
Professor Peters: Zumindest bleibt die Stimmung gut! Denn Typ B ist nicht wie der Schauspieler, der immer aufs Neue mit starkem Lampenfieber kämpft, also das Stresssystem immer wieder aufs Neue hoch fährt (und damit automatisch schlechte Stimmung bekommt). Sein Stresssystem passt sich an: Beim 3. Auftritt ist Typ B schon weniger nervös, nach 50 Jahren fast gar nicht mehr. Bleibt aber die Frage: Wie wird das Gehirn dieses Typen versorgt, wo kommt die Energie her, wenn das Stresssystem heruntergefahren ist?
Er isst mehr - so wirddie Hirnversorgung im Dauerstress gesichert - aber die Energie staut sich im Körper. Wir nennen das Habituation, die Anpassung des Stresssystems. Und die macht diesen Typen dick.
imedo: Stress macht uns also entweder dick oder traurig – trübe Aussichten!
Professor Peters: Das ist es genau! Wenn wir chronischen Stress über Jahre haben, ergeben sich diese beiden Alternativen. Wobei dick besser ist, denn Depression ist wirklich eine schlimme Erkrankung. Insofern hat “Dick sein” einen gewissen Vorteil. Wer sich nämlich satt ißt, macht es aus Sicht der Hirnforschung richtig, weil mehr Essen (das Hungersignal) eine ausgeklügelte Notlösung des Gehirns ist. Gar nicht so dumm! Und andere Lösungen sind denkbar schlechter.
imedo: Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Professor Peters: Ja, den gibt es: Spüren Sie die Ursache chronischen Stresses auf. Zwei Schritte helfen dabei: 1. Entwickeln Sie Strategien, wie Sie die Stress-Ursache loswerden können. 2. Lernen Sie, besser mit Stress umzugehen. Ein Beispiel: Sie werden am Arbeitsplatz gemobbt. Die kausale Lösung des Problems wäre, zu kündigen. Die Belastung wäre weg, das Stresssystem würde wieder abfallen, Schluss mit dem Dilemma dick oder traurig. Aber oft ist das nicht so einfach, deshalb muss man lernen, damit zu leben: Durch das Erlernen von besseren Bewältigungsstrategien, Konfliktlösungsstrategien oder psychotherapeutische Techniken, zum Beispiel beim Psychologen. Wie man das macht, ist im Buch sehr ausführlich beschrieben, ich nenne es “Gefühle als Wegweiser”.
imedo: Und wie funktioniert das?
Professor Peters: Die Formel besteht aus drei Punkten: Wie fühle ich mich? Was brauche ich? Bitte gib mir doch. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Jemand fühlt sich schlecht. Doch was heißt das, wie fühlt er wirklich? Fühlt er sich schuldig, traurig, wütend oder einsam? Also hört die Person in sich hinein und gesteht sich ein, sie fühlt sich schlecht, weil sie einsam ist. Und so weiß sie, was sie braucht: Mitmenschen. Jemand, mit dem sie in Kontakt treten kann und reden kann. Folgerichtiges Handeln wäre also, einen Freund anzurufen und eine Verabredung zu treffen. Negatives wird somit sofort durch das Positive ersetzt, auch wenn die Verabredung erst in drei Tagen ist. Der Stress geht weg, man fühlt sich gemocht und wertgeschätzt. Man kann das schlechte Gefühl natürlich auch wegessen, das nutzt aber nichts.
imedo: Was empfehlen Sie Übergewichtigen?
Professor Peters: Ich sehe da drei Stufen. Die erste ist die Befreiung von Schuld, als zweite Akzeptanz und zum dritten der Königsweg. Noch einmal zur ersten: Die Befreiung von Schuld ist mir ein großes Anliegen. Wir haben Riesenprobleme heute, weil Übergewichtige stark stigmatisiert sind. Sätze wie “der isst zu viel, weil er sich nicht zurückhalten kann” sind aus heutiger Sicht der Hirnforschung überhaupt nicht mehr gerechtfertigt. Auch wenn die Körperdepots voll sind, hat das Gehirn trotzdem einen echten Energiebedarf, der muss gedeckt werden. Zum zweiten: Akzeptanz des Übergewichts bedeutet “esse so viel, bis du satt bist. Akzeptiere das, freue dich über die gute Stimmung. Du musst nicht verkrampft sein, denn du weißt aus Stufe Nummer 1, du bist nicht schuld.” Und nun zur dritten Stufe, dem Königsweg. Er ist steinig, aber funktioniert, das zeigen Studien. Der Königsweg zielt darauf ab, Faktoren, die das Stresssystem stören, abzuschalten und das Stresssystem wieder aktiv zu stärken.
imedo: Welche Faktoren sind das, können Sie Beispiele nennen?
Professor Peters: Kalorischer Süßstoff ist ein klassisches Beispiel. Er kündigt dem Gehirn an, dass Glukose kommt. Also stellt das Gehirn die Stoffwechselwege ein und freut sich auf die frische Energie. Es kommt aber keine Energie an, sondern nur Chemie. Das Gehirn ist enttäuscht und wenn dies ein paar Mal hintereinander passiert ist, wechselt es die Strategie. Es achtet nicht mehr auf Süßes und geht lieber auf Nummer sicher, indem es von Beginn an mehr bestellt. Somit werden Menschen, die durch Süßstoff getäuscht werden, dick.
imedo: Also Süßstoff verbannen und alles wird gut?
Professor Peters: Zumindest ist der Verzicht auf Süßstoff ein einfacher und wichtiger Schritt. Allerdings gibt es noch andere Stoffe, die unser Stresssystem hemmen, Alkohol zum Beispiel oder Medikamente wie Betablocker, Psychopharmaka. Hier ist es nicht ganz so leicht mit dem Weglassen. Bei Kindern kommt auf der psychologischen Ebene noch die Werbung dazu: In einer Studie durften Kinder Snacks knabbern und dabei fernsehen. Eine Gruppe sah Nahrungsmittel-Werbung(Food-Ads), die andere nicht. Kinder mit Food-Ads aßen 45% mehr Knabberzeug. Das zeigt, welche Kraft Werbesignale gerade auf unsere Jüngsten haben: Sie hemmen das Stresssystem.
imedo: Ihre Empfehlung?
Professor Peters: Kinder liegen mir besonders am Herzen, deshalb bin ich für ein Nahrungsmittel-Werbeverbot für Kinder. Die Waffen der Werbeindustrie sind scharf geschliffen, deshalb müssen wir unsere Kinder schützen und ihr Stresssystem stark halten.
imedo: Aber immer mehr Kinder sind übergewichtig. Lässt sich dieser Trend überhaupt noch stoppen?
Professor Peters: Wenn wir diese Epidemie anhalten wollen – die Welle bewegt sich mit rasender Geschwindigkeit - müssen Kinder, die heute geboren werden, schlank bleiben. Nur dann kann die Welle gestoppt werden. Für uns heißt das: Wir müssen aufpassen, dass unsere Kinder geschützt werden.
imedo: Und zum Abschluss aus purer Neugierde: Haben Sie schon einmal eine Diät gemacht?
Professor Peters: (lacht) Nein, das brauche ich nicht. Ich bin schlank und hatte Glück, dass ich mit einem starken Stresssystem geboren worden bin. Außerdem treibe ich viel Sport, dadurch wird das Stresssystem trainiert. Und ich verzichte seit Jahren auf Alkohol. Das war eine der besten Entscheidungen, die ich treffen konnte. Es ist natürlich nicht leicht, denn Alkohol ist ja auch in einem sozialen Kontext zu sehen, doch ich fand es trotzdem toll. Es wirkt sich positiv auf das Stresssystem aus und man nimmt noch feinere Gefühlsnuancen wahr.
imedo: Ihr Tipp für alle, die für die Sommerfigur noch einige Pfunde loswerden wollen?
Professor Peters: Essen Sie sich satt, dann ist die Stimmung gut. Lassen Sie alles weg, was die Stimmung stört (Alkohol zum Beispiel) und lesen Sie in meinem Buch den Königsweg nach. Dann profitieren Sie in der Badesaison 2012!
Vielen Dank für das tolle Gespräch!
Das Gespräch führte Marion Schmitt, Pressesprecherin des Gesundheitsportals imedo.de.
Das Buch zum Interview:
Achim Peters: Das egoistische Gehirn. Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft; Ullstein-Verlag, 336 Seiten, 19,99 Euro.
Über Professor Achim Peters:
Jahrgang 1957, ist Hirnforscher, Internist und Diabetologe. Er entwickelte die Selfish-Brain-Theorie und leitet die seit 2004 bestehende und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte klinische Forschergruppe „Selfish Brain: Gehirnglukose und metabolisches Syndrom“ an der Universität Lübeck.
Tipp:
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